Libanesen wählen inmitten schwerer Krise neues Parlament
Im Libanon haben die Bürger inmitten der schwersten Krise des Landes seit Jahrzehnten am Sonntag ein neues Parlament gewählt. 3,9 Millionen Menschen waren zu der Wahl aufgerufen. Ergebnisse wurden erst für Montag erwartet. Trotz der großen Unzufriedenheit in der Bevölkerung zeichnete sich ab, dass die schiitische Hisbollah-Partei - Libanons größte politische und militärische Organisation - und ihre Verbündeten erneut stärkste Kraft werden.
In den meisten Regionen des Landes war die Wahlbeteiligung bis zur Mittagszeit schwach. Libanesische Medien berichteten von Stromausfällen in mehreren Wahllokalen. Energiemangel ist ein alltägliches Problem im Libanon, das Innenministerium hatte aber eine ununterbrochene Stromversorgung der Wahllokale zugesichert. Die Urnen sollten bis 19.00 Uhr Ortszeit (18.00 Uhr MESZ) geöffnet bleiben.
Aus den Hochburgen der Hisbollah wurden mehrere gewaltsame Zusammenstöße gemeldet. Die Nichtregierungsorganisation Vereinigung für demokratische Wahlen teilte mit, mehrere ihrer Mitglieder seien in Wahllokalen angegriffen worden, einige von ihnen in der Bekaa-Region, wo die Hisbollah besonders stark ist. Aus derselben Region meldete die christliche Partei Libanesische Kräfte, dass mehrere ihrer Vertreter geschlagen und aus Wahllokalen geworfen worden seien.
Bei der Parlamentswahl werden zwar Experten zufolge unabhängige Kandidaten voraussichtlich mehr Sitze gewinnen als zuletzt im Jahr 2018. Eine größere Veränderung des Kräftegleichgewichts wurde allerdings nicht erwartet.
Das politische System des Libanon hat die Macht seit langer Zeit unter den Religionsgemeinschaften aufgeteilt und eine herrschende Elite gefestigt. Der Präsident ist traditionell ein maronitischer Christ, der Regierungschef ein sunnitischer Muslim und der Parlamentspräsident ein Schiit.
Dieses System schmälert die Chancen für nichtreligiöse Parteien und Vertreter der Zivilgesellschaft. Im derzeitigen Parlament sind die Hisbollah-Partei und ihre Verbündeten in der Mehrheit. Eine Wahlrechtsreform von 2017 begünstigt die Parteien, die bereits an der Macht sind. Zudem boykottierte der wichtigste sunnitische Politiker und frühere Regierungschef Saad Hariri aus Protest gegen das System die Wahl.
Der Libanon steckt in seiner schlimmsten Krise seit dem 1990 beendeten Bürgerkrieg. Die Inflation galoppiert, die Armut wächst, Libanesen verlassen massenhaft ihr Land. Der Staat versagt selbst bei grundlegenden Dienstleistungen wie der Stromversorgung oder der Müllabfuhr. Hier springen die traditionellen politischen Anführer mit ihren jahrzehntealten Patronagenetzen ein. Sie verteilen etwa Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst, aber auch Treibstoff und Bargeld.
Im Herbst 2019 trat zwar eine starke Protestbewegung aus vorwiegend jungen Menschen auf den Plan, die Front gegen die herrschenden Eliten machte. Die Bewegung erhielt dann neuen Auftrieb nach der Explosion von Ammoniumnitrat im Hafen von Beirut, durch die mehr als 200 Menschen starben und ganze Stadtviertel verwüstet wurden. Doch den aus der Protestbewegung hervorgegangenen unabhängigen Kandidaten gelang es nicht, sich für die Parlamentswahl zusammenzuschließen.
J.Sharp--TNT