Nach Hamas-Angriff auf Israel wird Ausmaß der Gewalt immer deutlicher
Drei Tage nach dem Großangriff der Hamas auf Israel wird das ganze Ausmaß der Gewalt immer deutlicher: Allein in dem 1000-Einwohner-Kibbuz Beeri wurden laut dem israelischen Rettungsdienst Zaka mehr als 100 Leichen geborgen. Die israelische Armee teilte mit, sie habe "etwa 1500 Leichen von Hamas-Kämpfern" in Israel gezählt. Derweil bemüht sich Deutschland um Erkenntnisse zum Schicksal der mutmaßlich von der Hamas entführten deutschen Staatsbürger. Die UNO kritisierte indes eine von Israel verkündete komplette Abriegelung des Gazastreifens als völkerrechtswidrig.
Die radikalislamische Palästinenserorganisation Hamas hatte am Samstag tausende Raketen auf Israel abgefeuert, gleichzeitig waren hunderte Kämpfer in den Süden Israels eingedrungen und hatten Zivilisten und Soldaten erschossen. Allein bei einem Musikfestival im Süden Israels ermordeten sie mehr als 270 überwiegend junge Menschen.
Im Kibbuz Beeri an der Grenze zum Gazastreifen töten bewaffnete Hamas-Kommandos zudem mindestens 100 Menschen und damit mehr als ein Zehntel aller Einwohner, wie am Dienstag bekannt wurde. "Sie haben alle erschossen", sagte Moti Bukjin von der Freiwilligenorganisation Zaka, die für die Bergung von Leichen nach religiösem Ritus zuständig ist, der Nachrichtenagentur AFP. "Sie ermordeten kaltblütig Kinder, Babys, alte Menschen – jeden", sagte der Zaka-Sprecher.
Israel reagierte auf den schlimmsten Überfall seit seiner Staatsgründung mit Luft- und Artillerieangriffen auf hunderte Ziele im Gazastreifen, von wo aus die Hamas ihre Angriffe gestartet hatte. Am Dienstag feuerte die Hamas erneut Raketen auf Ziele in Israel ab, während Israel seine Bombardements im Gazastreifen mit aller Härte fortsetzte.
Die Zahl der Todesopfer stieg inzwischen auf mehr als 900 auf israelischer und mehr als 760 auf palästinensischer Seite, tausende weitere Menschen wurden verletzt. Auch eine junge deutsche Touristin wurde Medienberichten zufolge bei einem Besuch im Kibbuz Nir Os nahe des Gazastreifens getötet.
Nach Angaben der "Welt" war die Studentin aus Berlin mit ihrem britischen Freund in Israel im Urlaub. Das Paar besuchte demnach am Samstag den Kibbuz, in dem der Brite aufgewachsen war. Später habe die Mutter die Nachricht erhalten, dass die Leichen ihrer Tochter und ihres Freundes gefunden worden seien. Eine offizielle Bestätigung gab es zunächst nicht. Auch Bürger anderer Staaten, darunter elf US-Bürger, vier Franzosen sowie Bürger aus Thailand, Nepal, Argentinien Großbritannien und der Ukraine, wurden Behörden zufolge getötet.
Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu verglich die Hamas mit der Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS), die in Syrien und im Irak reihenweise Gräueltaten an Zivilisten verübt hatte. "Hamas-Terroristen haben Kinder gefesselt, verbrannt und hingerichtet. Sie sind Wilde. Die Hamas ist IS", sagte Netanjahu am Montagabend in einer Fernsehansprache.
Bei ihrem Überfall hatte die Hamas zudem etwa 150 Geiseln in den Gazastreifen verschleppt, darunter offenbar auch Deutsche. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sagte am Dienstag, die Bundesregierung bemühe sich "intensiv" um Erkenntnisse über deren Schicksal. "Wir versuchen genau zu ermitteln, um wie viele Personen es sich handelt und was wir dafür tun können, dass sie wieder in Freiheit kommen." Paris zeigte sich besorgt angesichts bislang fehlender Informationen über den Verbleib von 13 französischen Staatsbürgern, von denen einige "sehr wahrscheinlich entführt wurden", darunter vermutlich auch ein zwölfjähriges Kind.
Der französische Präsident Emmanuel Macron sprach mit Blick auf die Entführungen durch die Hamas von einer "unerträglichen Erpressung". Die Islamisten hatten mit der Tötung von Geiseln gedroht, sollte Israel den Gazastreifen weiter ohne Vorwarnung aus der Luft angreifen.
Derweil teilte die israelische Armee mit, dass sie in Israel und rund um den Gazastreifen "etwa 1500 Leichen von Hamas-Kämpfern" gezählt habe. Inzwischen habe Israel "mehr oder weniger" die Kontrolle über die Grenze zum Gazastreifen wiedererlangt. Zuvor hatte die israelische Armee 300.000 Reservisten für den Einsatz "Eiserne Schwerter" gegen die Hamas mobilisiert.
Viele Beobachter gingen von einer baldigen Bodenoffensive Israels im Gaza-Streifen aus. "Was die Hamas erleben wird, wird schwer und schrecklich sein. Wir werden den Nahen Osten verändern", sagte Netanjahu am Montag.
Unterdessen kritisierte die UNO die Entscheidung Israels, den Gazastreifen komplett von der Versorgung mit Wasser, Lebensmitteln, Strom und Gas abzuschneiden. Blockaden, die das Leben von Zivilisten gefährdeten, sei gemäß dem humanitären Völkerrecht "verboten", erklärte UN-Menschenrechtskommissar Volker Türk. Auch Geiselnahmen von Zivilisten seien nach internationalen Recht verboten. Er warnte vor "Rache" und rief beide Seiten zur Deeskalation auf.
Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) erklärte sich bereit, als Vermittler bei der Befreiung der Geiseln behilflich zu sein. Die Geiseln müssten "unverzüglich unversehrt freigelassen werden", forderte IKRK-Präsidentin Mirjana Spoljaric.
Die Staats- und Regierungschefs von Deutschland, Frankreich, Italien, Großbritannien und den USA hatten Israel am Montagabend ihre volle Solidarität zugesichert. Sie warnten zudem andere Staaten - "insbesondere den Iran" - und extremistische Gruppen davor, den Konflikt "über den Gazastreifen hinaus" auszuweiten. Der Iran lobt zwar den Hamas-Angriff, bestreitet jedoch jegliche Beteiligung.
E.Reid--TNT